Das Geviert bei Hölderlin und Heidegger: Entfaltung eines mythischen Raumes

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Karl-Ludwig Diehl

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Jan 20, 2009, 8:13:07 AM1/20/09
to Baugeschichte


Das Geviert bei Hölderlin und Heidegger: Entfaltung eines
mythischen Raumes


Von Hölderlin wird berichtet, er habe mit Hegel und Schel-
ling Philosophie und ev.Theologie in Tübingen studiert. Als
er bei Jena eine Anstellung als Hauslehrer fand, habe er in
Jena regen Umgang mit Schiller, Bekanntschaft mit Fichte,
Goethe, Herder und vielen anderen gemacht. Man darf ihn
also zum Kreis dieser Romantiker rechnen. Es kann auch
vorausgesetzt werden, daß er sich in ihren Bestrebungen
gut auskannte.

Zu Hölderlin wird dargelegt, er habe sich intensiv mit dem
Wesen der Dichtung beschäftigt, anfangs seine Lyrik an
Klopstock und Schiller angelehnt, dann in einem Briefroman
zu sich selbst gefunden. In diesem Briefroman "Hyperion"
suche ein von seinen Mitmenschen und von sich selbst
enttäuschter Zuflucht "bei der großen, heiligen, göttlichen
Natur ("Vater Aether", "Mutter Erde")". Aus einem Gefühl
der Lebensleere heraus sei bei Hölderlin die Vision des
antiken Griechenlands als einer "verlorenen idealen Welt"
entstanden. In der Folge sei es ihm darum gegangen, den
Menschen ein "Bleiben in liebender Nacht" zu ermöglichen,
die Menschen "ins Offene", was bei ihm heißt, an den "Ab-
grund (=Urgrund)" zurückzuführen, damit sie frei werden,
den "kommenden Gott" zu erwarten. Um diese Haltung des
Wartens sei es ihm gegangen, als er Oden, Elegien und
seine "Vaterländischen Gesänge" schrieb. Diese Haltung
des Wartens sei von ihm als der Zustand des "wiederge-
fundenen Göttlichen" gedacht gewesen. Er hielt Dichten
für einen Prozeß des "Zu-sich-selbst-Findens des Welt-
geistes im Dichtergeist". Hölderlin habe sich einer Spra-
che bedient, die mythisch verschlüsselt sei. (1)

Schon diese schlichte Zusammenfassung macht deutlich,
daß es sich bei dem Wort "Geviert", das bei Heidegger im
Vortrag "Bauen Wohnen Denken" vom Jahre 1951 eine
wichtige Rolle spielt und aus dem Werk von Hölderlin über-
nommen worden sein muß, um die Beschreibung einer
mythischen Landschaft handeln wird.

Den Kreis, in dem sich Hölderlin in Jena bewegte, beschäf-
tigte das Schöne an dem Religiösen. A.W.Schlegel etwa
wies darauf hin, "daß für die Poesie alles Schöne wahr ist".
Er definierte das Religiöse als "Sinn und Geschmack für
das Unendliche". Er meinte: "Alles Beschränkte als eine
Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion".
Die Romantiker sahen sich als Mittler und Fenster zum
Unendlichen. Schleiermacher bot dem Kreis der Romanti-
ker die Möglichkeit, Mythos und Mythologie anders zu
verstehen. Er machte bewußt, daß es darauf ankomme, den
religiösen Kern der alten Mythen und der mythischen Sys-
teme freizulegen. Er wies daraufhin, daß es darum gehen
müsse, die Triebkräfte der Natur und die im Menschen wir-
kenden Antriebe, als da sind, die Götter des Wassers, des
Luftreiches, der Erde, des Waldes, des Kampfes, der
Liebe, der List, der Bewegung, des Todes, zum Ausdruck
zu bringen. Er unterschied deutlich, es gebe Mythologien,
die aus dem Gefühl der Freiheit entspringen, und solche,
die in der Unfreiheit ihren Entstehungsgrund haben. Frei sei
jene Mythologie, die den Menschen belebt und seine schöp-
ferischen Kräfte belebt. Auch eine solche mache frei, durch
die sich die Menschen aus Bindungen an die Ursprünge
befreien können.

Es ging also bei Schleiermacher um den religiösen Kern
im Mythos, und der sei dort zu suchen, wo zwei Dinge mit-
einander verbunden sind, nämlich "die Beziehung zum unge-
heuren Ganzen und die Weckung des Bewußtseins von
Individualität", was dann eine "Erfahrung der Freiheit" er-
gebe. Es sei dies in einem Text vom Jahre 1797 zum Aus-
druck gebracht, den man lange Zeit "Hölderlin, Schelling
oder Hegel" zugeschrieben habe, aber der von Schelling
ist. Darin die Forderung: "wir müssen eine neue Mythologie
haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen
stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden."

"Die Ideen", so Safranski, "die ins mythologische Gewand
gekleidet werden sollen, sind, jedenfalls für die Autoren,
klar und bestimmt. Sie sollen mit Hilfe der Bilderrede an-
schaulicher gemacht werden." (2)

Schelling schrieb 1804, als Napoleon seine Vorherrschaft
über deutsche Gebiete ausgedehnt hatte: "Wo alles öffent-
liche Leben in die Einzelheit und Mattheit des Privatlebens
zerfällt, sinkt mehr oder weniger auch die Poesie herab in
diese gleichgültige Sphäre". Anschließend, als er den Aus-
weg daraus sucht, formuliert er zur Funktion der Mytholo-
gie, die aus dem lethargischen Zustand heraushebe: "My-
thologie ist nicht in der Einzelheit möglich, kann nur aus
der Totalität einer Nation, die sich als solche zugleich als
Identität - als Individuum - verhält, geboren werden." (3)

Als das geschrieben wurde, arbeitete Hegel an seiner "My-
thologie der Vernunft".

Um 1800 hatte außerdem eine ausgeweitete Mythenfor-
schung eingesetzt. Man entdeckte den "Orient", der da-
mals als Wort Indien, China und Aegypten meinte. Im Jah-
re 1810 hatte Görres seine "Mythengeschichte der asiati-
schen Welt" veröffentlicht. Und Schlegel habe damals er-
klärt, man müsse im Orient das höchste Romantische
suchen. Safranski meint, die Romantiker habe das Gefühl
überschwemmt, "in einem ungeheuren Zeitstrom zu trei-
ben". Winkelmanns Bild von der Antike im Lichte edler
Einfalt und stiller Größe sei durch das Aufkommen der
neuen Erkenntnisse in eine Verwandlung gekommen. An
der Antike interessierte nun alles, auch das Orgiastische
und Grausame, das Wilde und Heidnische.

In dieser Zeit sei es Friedrich Hölderlin gewesen, der "die-
se Heiterkeit des Griechentums" bewahren wollte. Die re-
ligiöse Bewegung der Romantiker habe ihn tief beeinflußt,
aber er habe seine Suche nicht in den asiatischen Kultur-
sphären aufgenommen, sondern sich ganz auf die antike
griechische Götterwelt eingelassen, um all die in den My-
then bewahrten Denkzusammenhänge zu verstehen. Er
habe sich daran gemacht, all diese griechischen Autoren
im Original zu lesen. Die dionysischen Mysterien der Wie-
dergeburt und Erneuerung hätten es ihm ganz besonders
angetan. Sie seien auch bei Hegel und Schelling, die mit
Hölderlin zusammen in Tübingen studierten, ein großes
Thema gewesen. Als dann später die Romantiker im Jah-
re 1797 ihr Programm einer "Mythologie der Vernunft" ent-
wickelten, sei es Hölderlin gewesen, der es poetisch um-
gesetzt habe. Die Poesie sei es, weil es die Sprache ist,
die den sakralen Raum schafft, in dem sich das Göttliche
zeigen kann.

Für Hölderlin wird die mythische Phantasie zum Organ
der Wahrnehmung, meint Safranski. Hölderlins Interesse
an den antiken Klassikern habe mit Schillers Gedicht
"Die Götter Griechenlands" seinen Anfang genommen.
Es sei dieses Gedicht gewesen, das Hölderlin zu seinen
eigenen Versuchen der Wiederbelebung des mythischen
Bewußtseins inspiriert habe. Unter mythischer Erfahrung
habe er seitdem "ein Gespür für tiefere Bedeutung" ver-
standen. Seine Suche richtete sich nun darauf, eine ly-
rische Sprache für die mythische Erfahrung zu finden.
Zur Verfügung stand damals ein "Gründliches mytholo-
gisches Lexikon" von B.Hederich, das eifrig genutzt wur-
de. Aber es waren für ihn bald nicht mehr diese "künst-
lerischen Sinnbilder", wie sie es für Winkelmann, Schiller,
Goethe, Schlegel und andere waren, sondern sie seien
dem Hölderlin ganz gegenwärtig geworden. Wie soll man
das verstehen? Safranski biete diese Erklärung an:

"Hölderlin fühlt nicht christlich, aber auch nicht panthe-
istisch. Die Natur wird nicht mit Gott gleichgesetzt, son-
dern es sind besondere Gelegenheiten, Situationen, Be-
ziehungen, die als göttlich erlebt werden. /.../ Göttlich
können auch Landschaften sein. /.../ Nicht in der ganzen
Natur, sondern in bestimmten Landschaften und Konfigu-
rationen des Menschengeflechtes west das Göttliche." (4)

Er breitete ein Wortgewebe aus, in dem das Göttliche
durch die Sprache lebt. Dieses Gewebe sah er als sehr
zerbrechlich an. Es mußte durch Sprache immerzu aus-
gebreitet werden, damit die mythologische Welt lebendig
bleibt. Eine solche ausgebreitete mythologische Land-
schaft, in der solch ein Leben herrschen konnte, war ihm
"das Geviert". Heidegger hatte dieses Geviert in seinen
Vortrag von 1951 eingebaut. Er wird es nicht einfach so
gemacht haben, sondern sehr genau gewußt haben, wa-
rum.

Den Romantikern, die sich in einem deutschsprachigen
Kulturraum aufhielten, der von Napoleon besetzt worden
war, mußte es damals um Befreiung gehen.

"Die romantische Metaphysik des Unendlichen wird zur
Metaphysik der Geschichte und der Gesellschaft, der
Volksgeister und der Nation, und es wird den Einzelnen
immer schwieriger, sich der Suggestion des >Wir< zu
entziehen." (5)

In der Zeit nach der Zerschlagung des Heiligen Römischen
Reiches Deutscher Nation durch Napoleon sei es nun um
eine Suche nach dem gegangen, was man heute "deu-
tsche Identität" nenne. Fichte forderte die Gesellschaft
als Inhaber der materiellen Kräfte zur kollektiven Tathand-
lung auf. Schleiermacher rief als Prediger in einer Kirche
offiziell zum Krieg gegen den Besatzer auf. Der Landsturm
setzte sich in Bewegung, um das Geviert von den Besat-
zern zu reinigen. Dichter und Denker hielten den patrioti-
schen Geist mit Schriften lebendig, den sie entfacht hat-
ten.

Man wird zurecht annehmen dürfen, daß Heidegger bei
seinem Vortrag im Deutschen Werkbund, den er nach dem
Zweiten Weltkrieg in einem besetzten Land hielt, so intelli-
gent vorging, als er am Thema Brücke einen mythischen
Raum zur Entfaltung brachte, daß sich darin unausgespro-
chen der deutsche politische Herrschaftsraum zum Aus-
druck brachte, als er über das von Hölderlin entwickelte
Thema des Gevierts ausgiebig sprach. Das Geviert wird
damals kaum beziehungslos zum Thema der Neuschaf-
fung des deutschen Staates in diesem Vortrag vorhanden
gewesen sein können. Man brauchte in keinster Weise
deutlich darauf hinweisen, daß es um die deutsche Sache
ging, da es zentrales Thema war, Deutschland wieder
aufzubauen. Der mythische Raum, in dem sich dieser
Neuanfang abzuspielen hatte, nannte er "das Geviert".
Man beachte, um was es Hölderlin gegangen war, als er
sein Geviert ausformuliert hatte.

"Nicht in der ganzen Natur, sondern in bestimmten Land-
schaften und Konfigurationen des Menschengeflechtes
west das Göttliche", (6)

schrieb Safranski zu dem Denkansatz von Hölderlin. Da
die mythische Welt nur durch die Worte lebt, muß sie be-
ständig durch Worte am Leben erhalten werden. Heidegger
läßt diesen mythischen Raum durch den Gebrauch des
Wortes "das Geviert" aufleben, entfaltet in Worten den
mythischen Raum um eine Brücke als Verbindung von
Gegensätzen und belebt ihn durch die Bewohner. Er for-
dert diese Bewohner dazu auf, dieses Geviert zu beleben
und durch das Wohnen durchzuhalten, also nicht preis-
zugeben. Daß er einen Begriff wählte, der in der deutschen
Romantik eine Rolle spielte, in der es um das Göttliche
ging, das in einer mythischen Landschaft west, zugleich
die Zeit war, wo darin die deutsche Nation zur Entfaltung
zu bringen war, müßte eigentlich ein wichtiger Hinweis
darauf sein, warum Heidegger nochmals auf das Wort
"das Geviert" zurückgriff, ohne explizit ausführen zu müs-
sen, daß es zugleich damit um die deutsche Sache ging,
die neu abzusichern war, da Deutschland am Boden lag.
Er wählte außerdem mit dem "Geviert" ein Wort aus der
mythischen Welt eines Hölderlin, von dem gesagt wird,
es sei Friedrich Hölderlin gewesen, der "diese Heiterkeit
des Griechentums" bewahren wollte. Eigenartig genug ist
es ja, daß bei den Staatsbauten der Bundesrepublik
Deutschland gerade nach einem Ausdruck des Heiteren
gesucht wurde, als man sie am Rheinufer in Bonn aufbau-
te.

Ob man Heideggers Text von 1951 heute mag oder nicht
mag, ist für den Gedankengang, den er vor dem Deutschen
Werkbund ausbreitete, völlig unwesentlich. Es geht um
ein Verständnis dieses Vortrags, der sicher ganz verschie-
den rezipiert wurde.

K.L.

Anmerkungen:
(1) siehe etwa bei: Hans f.Müller, u.a.: Das moderne Lexi-
kon. Bd.8. Gütersloh, 1977. S.21f4f.
(2) siehe Zitat aus: Rüdiger Safranski: Romantik - Eine
deutsche Affäre. München, 2007.S.154, im Kontext des
8.Kapitels.
(3) Schelling zitiert in: R.Safranski, wie vor, S.155
(4) zitiert aus: R.Safranski, wie vor, S.167
(5) zitiert aus: R.Safranski, wie vor, S.179
(6) siehe Anmerk. (4) Siehe auch solche Hinweise:
http://www.baukultur-forschung.de/datenbank/chronologisch/?cfrom=1950-01&cleft=1901-01&cright=2008-01&cto=1950-12&history=e2491&types=hauptereignisse



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