Die Interpretation der Welt als Geschichte: die revolutionäre Arbeitsmethode des Historismus

0 views
Skip to first unread message

Karl-Ludwig Diehl

unread,
Oct 29, 2008, 10:38:09 AM10/29/08
to Baugeschichte

Die Interpretation der Welt als Geschichte: die revolutionäre
Arbeitsmethode des Historismus


Die Moderne, die sich im 19.Jahrhundert entfaltet, war für die
Menschen dieses Zeitalters ein spannendes Ereignis. Golo
Mann schreibt dazu:

"Daß man in einer ungewöhnlichen Zeit lebte, hatte man schon
im späten 18.Jahrhundert geglaubt; aber damals hatte es sich
um den einmaligen Schritt gehandelt, von einer mittelalterlich-
unvernünftigen in die vernünftig geordnete Welt. Jetzt war immer
Krise; jetzt hatte jede Zeit ihr eigenes Gesetz, um dessen Er-
füllung sie rang.." (1)

Im 19.Jahrhundert blühten die Wissenschaften auf. Die alten
Auffassungen brachen zusammen. Geologie, Paläontologie und
andere wissenschaftliche Disziplinen schufen ein historisches
Gerüst der Weltentwicklung, der Entwicklung des Lebens und
der Menschheit. Immer weitere Fragen wurden aufgeworfen, wie
sich alles entwickelt hat. Die Welt wurde immerzu neu geschicht-
lich interpretiert und der Historismus entstand als neue Methode,
mit dem Vergangenen umzugehen.

Um das Neue entwickeln zu können, griff man auf die Vergangen-
heit zurück. Man wollte die Entwicklungsstränge verstehen, um
an ihnen in die Zukunft hinein weiterbauen zu können. Das warf
zugleich das Problem auf, wie mit den vielen Vergangenheiten
umzugehen ist, die aufgeworfen werden konnten. Wertsysteme
waren zu entwerfen, auf die hin Vergangenheit auszuwerten war.
Der Sinn und Zweck jeglichen Tuns und Handelns geriet auf den
Prüfstand. Man wollte die Bedingungen und Antriebe verstehen,
welche zur Entfaltung der Geschichte geführt hatten. Und man
wollte aus der Geschichte heraus die neuen Ziele des Handelns
begründen.

Voraussetzung für den Historismus war die Entdeckung der
Individualität, "der unwiederholbaren Einzigkeit und Einzigartig-
keit des Besonderen", wie Thomas Nipperdey es ausformuliert.
Diese Individualität könne man nur erkennen, wenn man ihre
Entwicklung begreife und wenn man versuche, sie aus ihren ei-
genen Voraussetzungen und nicht aus den überzeitlich verstan-
denen Voraussetzung der eigenen Gegenwart zu verstehen. (2)

Humanität ist dann nicht mehr Entfaltung der allgemein mensch-
lichen Eigenschaften, sondern die Entfaltung seiner individuellen
Anlagen. Historische Erscheinungen werden so zum Ausdruck
vieler schaffender Geister. Der Sinn, der diesem geistigen
Schaffen zugrunde liegt, ist endlich zu erschließen. Eine solche
Arbeitsmethodik zu entwickeln, die den Sinn erschließen kann,
der dem geistigen Schaffen der gestaltenden Individuen zugrunde
lag und liegt, war das Thema der Moderne des 19.Jahrhunderts.
Man wollte die historischen Vorgänge endlich begreifen, sie
kritisch durchdringen, sie als Verflechtungen nebeneinanderste-
hender Ursachen verstehen, den Verursachungsprozeß dezidier-
ter ergründen. Es ging darum, diese Unendlichkeit der Ursachen,
die zugleich als Repräsentanten der inneren Freiheit des Men-
schen deutlicher entdeckt wurden, zu verstehen. Die Geistes-
wissenschaften explodierten. Und mit ihr explodierte die Quellen-
kritik. Es wurde üblich, deutlicher zu hinterfragen, was die
Zeugnisse der Vergangenheit eigentlich aussagen. Es entstand
"eine neue Überzeugung von der Unableitbarkeit und dem
Eigenrecht des Individuellen", die das Geschehen, das zu den
kulturellen Äußerungen der Menschheit geführt hatte, anders
und kritischer betrachten ließ. Die Bewegungskräfte der Ge-
schichte kennenlernen zu wollen, schuf eine aufregende Span-
nung, die man als das typische Kennzeichen des 19.Jahrhun-
derts ansehen kann.

Es darf daher nicht verwundern, wenn in der historistischen Ar-
chitektur immerzu Zitate von Architekturen vergangener Zeiten
auftauchen und als bedeutungsvolle Verweise auf die kompli-
zierten Entwicklungsstränge der Baugeschichte in der Archi-
tektur der Gegenwart des 19.Jahrhunderts plötzlich eine so
große Rolle spielen. Die Fortschrittsgeschichte der Mensch-
heit, die sich so in der historistischen Architektur widerspie-
gelt, hat auf diese Weise ihren ganz eigenartig schönen Aus-
druck gefunden. Es entstand damals das Bild einer organisch
gewachsenen Kultur, und ihren Wurzeln war man auf der Spur,
alles das fand sich wieder als Abbild in der Architektur. Es
ist grober Unfug, eine solche Baukunst so abzuwerten, wie
man es im 20.Jahrhundert gerne tat. Im Gegenteil: man sollte
sich die Baukunst des Historismus sinnvoll erschließen und
ihren Wert herausarbeiten. In ihr liegt viel Schönheit.

K.L.

Dieser Text von Karl-Ludwig Diehl wurde in
http://groups.google.com/group/de.sci.architektur
zur Diskussion gestellt. Der Autor ist über folgende
Emailadresse erreichbar: baugeschichte (at) email.de

Anmerkungen:
(1) zitiert aus: Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und
20.Jahrhunderts. Frankfurt, 1989 (1958). S.110f.
(2) siehe: Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte,
1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München, 1991.
S.500




Reply all
Reply to author
Forward
0 new messages